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Systemrelevant

  • Autorenbild: Astrid Sommer
    Astrid Sommer
  • 8. Nov.
  • 5 Min. Lesezeit

Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich meine erste Geburt erlebte, das war 1994 während meines ersten praktischen Einsatzes noch in der Krankenpflegeausbildung auf einer gynäkologischen Station.

Eine Frau, die kein Wort deutsch sprach und mit dem 5. Kind schwanger war, wurde zum medizinisch indizierten Schwangerschaftsabbruch auf der Station eingeleitet und mein Auftrag war, sobald sich die Geburt des Kindes in der 22. Schwangerschaftswoche ankündigt, sie in ihrem Bett in den Kreißsaal ein Stockwerk höher zu fahren.

Ich erinnere mich an einen Schwall Fruchtwasser, der Ehemann durfte nicht mit in den Kreißsaal, die Frau gebar zwischen Blut und Fruchtwasser einen Buben, der Trisomie 21 hatte.

Das Kind wog ca 800 Gramm, wurde wie ein Fisch an Land gespült und versuchte noch zu atmen, bis er schließlich verstarb. Die Hebamme wickelte ihn in einen dieser grün beschichteten Bettschoner, Einmalwegwerfmaterial, zeigte ihn der Mutter, die blass und weinend auf dem Bett lag und ja doch viel verstand, obwohl sie des Deutschen nicht mächtig war. Ich höre die Hebamme noch sagen, "Es wäre ein Junge geworden", wenige Augenblicke später konnte ich die Frau entbunden wieder zurück auf die Station zurückfahren. Damals war ich 22 Jahre alt. Ich erinnere mich, wie meine Großmutter am Rande des 2. Weltkrieges 4 Kinder zuhause geboren hat, mit einer Hebamme, die in allen Geburtsgeschichten auftauchte. Spätestens zu den Geburtstagen wurden Jahr für Jahr kraftvolle und eindrückliche Geburtsberichte zum Besten gegeben, währen die Kerzen auf dem Kuchen brannten.

Jahre später bin ich also erschüttert, zum Einen vom Spätabbruch und der wirtschaftlichen Not einer Familie, deren Sprache ich leider nicht spreche.

Zum anderen vom Konjunktiv, da die Hebamme mit strenger Miene davon sprach, es wäre ein Junge gewesen, währen das Kind mit Schnappatmung im Sterben lag.


Nach meiner Krankenpflegezeit, die ich hauptsächlich mit vielen Erfahrungen rund um intensive Dinge des Menschlichen auf der interdisziplinären Intensivstation eines Lehrkrankenhauses einer renommierten größeren Universität verbrachte, wurde mir immer dringlicher klar, ich will Hebamme werden.

Diese Zeit im Schichtdienst, mit Beatmungsmaschinen, Begegnungen zwischen Reanimation, Lebenserhaltung, Organtransplantation und auch medizinisch glücklichen Momenten forderte allerdings irgendwann immer mehr meine eigene ethische Haltung zum Menschsein heraus.


Wie kann ich Menschen tatsächlich würdevoll ins Sterben begleiten?

Was ist Menschenwürde überhaupt?

Wie lange halte ich diese Arbeit durch?

Wie steht es um eingefahrene hierarchische klinische Strukturen?

Wieviel Anerkennung bekommt die Pflege überhaupt in der Gesellschaft.


Meine 20iger habe ich also der Pflege gewidmet, überdies auch einigen Rucksackreisen, im Gepäck doch einiges an Idealismus mit dabei.

Und dann fühlte ich mich beseelt, dankbar, glücklich, endlich hatte ich einen Ausbildungsplatz zur Hebamme bekommen, in den alten Gemäuern der renommierten Maistrasse der LMU München, die mittlerweile ihre Tore geschlossen hat.

25 Jahre sind seitdem vergangen.

Meine Examensgeburt fand noch nicht im Simulationslabor unter strikten Auflagen von neuen Evidenzen an einer Puppe statt, sondern bestand darin, eine 24jährige komplett beschnittene junge Frau aus Somalia gut durch die Geburt ihres ersten Kindes zu begleiten.

Was mir auch gelang.


Beim Vorstellungsgespräch in Zürich wurde ich im Jahr 2002 tatsächlich gefragt, ob ich ein Problem damit hätte, jüdische Frauen zu entbinden. Ich dachte mir damals, ich habe kein Problem, aber ihr habt möglicherweise ein Problem mit meiner deutschen Staatsbürgerschaft.

In Luzern in einer schicken Privatklinik haderte ich mit mir, nachdem ich realisierte, ich müsse mich an der hohen etablierten Dammschnittrate der vielen Belegärzte in jedem Fall beteiligen, aber da ich selbst eine Frau bin, entschied ich mich gegen diese sehr schnittlastige Geburtshilfe.


Dann wurde ich in der Zwischenzeit selbst Mutter von drei Kindern.

Ich bin dankbar über drei selbst erlebte und durchlebte wunderbare Geburten.

Ich fühle mich unversehrt und seither weiß ich umso mehr, selbst verinnerlicht, wie wichtig der Verlauf der Geburt für so Vieles ist.

Plötzlich schwappte über uns alle auch noch Corona und ich sah mich wieder dabei, Frauen zuhause zu entbinden.

In ihrem Tempo, ohne Schnitte, ohne Gewalt auf ihrem Bauch. In Ruhe und Aufmerksamkeit. Mit dem Ergebnis, dass sie sagen konnten, ich habe es geschafft, ich habe geboren.


Mein Beruf ist Hebamme.


Dieser Tage geht eine Welle an politischer Umwälzung durch unser Land.

Ich bin auch heute wieder bei zwei Hausbesuchen im Wochenbett gewesen.

Frauen, die jeweils das erste Kind geboren haben.

Es ist Samstag. Ich kann mich nicht erinnern, wie viele Wochenenden, Nachtschichten, Feiertage, Weihnachten oder auch Silvester ich in meiner 34jährigen Laufbahn im Gesundheitswesen in Deutschland durchlebt habe.

Und auch heute stelle ich fest, ich mache meine Arbeit gerne.

Jedes Kind ist auf seine Weise vollkommen. Und bringt sehr viel eigene Persönlichkeit mit.

Und jede Frau ist unglaublich tapfer, ausdauernd, kraftvoll, liebend und hingebungsvoll.

Jede Familie ist etwas besonderes.


Diese Tage kann ich es umso weniger hören, systemrelevant zu sein.

Ich bin selbst Frau, Mutter, die geboren hat.

Der Faktor Zeit war für mich dabei das Allerwichtigste. Mein Tempo. Mich lassen. Und vor allem meine Kollegin, die Zeit für mich hatte, die da war, und auf die ich mich verlassen konnte.


Seit 1.11. gelten also neue Gebührenpunkte, alles eingebettet in einen sogenannten Hebammenhilfevertrag, damit wir Freiberuflichen wieder einmal übergestülpt mit noch mehr Bürokratie Zeit aufwenden können, am Schreibtisch sitzen, Qualitätsmanagement betreiben und immer mehr finanziell an die Wand in diesem Land geschoben werden.

Ich nenne das Hebammenwitzvertrag.

Er ist frauenfeindlich. Und damit auch kinderfeindlich.

Was ich nicht verstehe, was konkret meint die Politik denn nun mit systemrelevant.

Ich bin also Teil eines Systems, das in sich genau an den Stellen gravierende Einsparungen vornimmt, die uns Frauen alle betreffen. Die im 2. Schritt auch die Männer der Frauen betreffen und damit auch deren Kinder.

Ich werde als Hebamme also nun künftig zwar mit mehr Evidenz und ausgefeilten Studienergebnissen meine praktische Vorgehensweise argumentativ belegen können, muss aber noch mehr auf die Uhr schauen, was in einigen Situationen schlichtweg nicht möglich ist.

Soll ich im Wochenbett bei einer Frau mit Milchstau nach 50 Minuten einfach alles stehen und liegen lassen, meine Quittierungsbögen zücken und dann eben erst am nächsten Tag wiederkommen?

Wie soll Geburtshilfe künftig gut und sicher umgesetzt werden, wenn Beleghebammen, die aufgrund von personellen und einsparenden Massnahmen der Klinik nun eben doch 2 Frauen parallel unter der Geburt begleiten und damit 30 Prozent weniger Verdienst haben werden, was nun ja wirklich Realität ist. Soll die 2. Frau mit Wehen dann einfach vor der Tür des Kreißsaales alleine gelassen werden?

Welche alten weißen Männer haben sich das ausgedacht?


Immaterielles Weltkulturerbe, ja, das auch, mein Beruf steht auf der Unesco Liste. Schön.

Systemrelevant waren wir schon immer. Sind es irgendwie noch.

Ich fühle mich allerdings in meinem Hebammenherz stark getroffen. Auf eine eigenartige Weise verwundet. Seit Tagen beobachte ich, was diese Politik mit mir macht.

Ich fühle mich von eben dieser Politik übersehen, an die Wand gedrängt. Es ist mittlerweile existentiell geworden. Vielleicht liegt es ja am Weltkulturerbe. Vieles, was sich seit jeher bewährt hat, muss Einsparungen weichen, immaterielle Werte verschwinden. Das Menschsein vielleicht auch eines Tages.


Ich befinde mich also mittlerweile in einem Dilemma. Weil ich von meiner Arbeit auch leben möchte. Weil ich meine Berufung gerne mache.

Weil ich mittlerweile müde bin, all der sinnlosen Krankenkassenverhandlungen. Und dem gegenüber stehen jeden Monat viele, viele Hausbesuche, während zuhause noch mehr Bürokratiebewältigung wartet.


Ich bin Frau in einem Frauenberuf für Frauen.

Ich weiß, wir halten wirklich viel aus, wir nehmen sehr viel hin, ertragen sehr viel, v. a., wenn es unseren Kindern dient und wir irgendwann unterm Strich sagen können, Hauptsache, dem Kind gehts gut.

Ich frage mich heute, werden meine Töchter von einer KI entbunden werden?

Werden wir Hebammen wie früher auf dem Scheiterhaufen des Mittelalters heutzutage nur moderner verbrannt? Eben systemrelevant.

Und was erzähle ich künftig den Hebammenstudentinnen über die beruflichen Perspektiven?


Ich bin gerne Hebamme, ich liebe meinen Beruf.

Viele haben ihre Arbeit bereits niedergelegt.

Und ich frage mich heute, wieviele werden bleiben.

Warum müssen immer wieder wir Frauen für gesellschaftliche Mißstände herhalten.

Für die Fehlkalkulationen eines männlich strukturierten Gesundheitssystems?


Ich habe noch einen Eid geschworen, unabhängig von Rasse, Kultur, Religion, Weltanschauung, gesellschaftlichen Stand jeder Frau die Unterstützung zu ermöglichen, die sie tatsächlich benötigt.


Wie lange das noch möglich ist, ich weiß es nicht.


Das System hat entschieden, was also relevant ist.


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