Thomas
- Astrid Sommer

- 4. Okt.
- 29 Min. Lesezeit
Es ist der 17. Juli 1982, ein heißer Sommertag in einer nordschwäbischen Kleinstadt, deklariert als die
freundliche Mitte. Die Plakate der einzelnen RAF Mitglieder sind in den Geschäften als Suchaufruf
aufgehängt. Sie sind für mich der einzige trügerische Blick, die das kleinidyllische Leben stören. Ich
stehe vor der Entscheidung, zur Endausscheidung für meine Carrerafahrerlinzenz am heutigen Tag in
den Trubel des historischen Stadtfestes zu gehen, oder nicht. Bunte Häuserfassaden prägen das
Zentruminnere, ein Storchenpaar nistet zur lokalen Freude auf dem Dach einer Kirche. Ich bin 9 Jahre
alt, die Musik der neuen Deutschen Welle hat die Charts erobert, ich träume von 99 bunten
Luftballons und fühle mich kindlich leicht wie einer dieser Luftballons und stark zugleich.
Carrerabahnfahren, die kleinen bunten Autos gekonnt in die Kurven steuern und vorsichtige
Überholmanöver durchführen. Das blecherne Beschleunigunsgeräusch lässt mein Herz höher
schlagen, das eigene kleine ferngesteuerte Rennauto darf auf keinen Fall aus der Kurve
fliegen.
Eine große aufgebaute Anlage gibt es in der Innenstadt diese Tage dazu und ich bin mächtig
stolz, als einziges Mädchen nun tatsächlich gegen alle teilnehmenden Jungs in diese mir
wichtige Endauswahl gekommen zu sein. Bunte Häuserfassaden umspielen das rege Treiben
und die Sonne scheint warm mit sommerlicher Leichtigkeit.
Ich bin erst zögerlich, dann überlege ich, was mir wichtiger ist, die Endausscheidung oder
doch besser die Geburtstagseinladung. Der 10.Geburtstag, ein Sommerfest im Garten, dort
oben im Krebsgarten, eine hübsche Wohngegend.
Dort wohnt mein lieber Freund Thomas. Wir haben vor geraumer Zeit einen Detektivclub
gegründet, wir verstehen uns in aller kindlich untypischen Ruhe, er hat viel Sonne im Herzen.
Selbst im Kindergarten verzeihe ich ihm, dass er das männliche Vorrecht in den endsiebziger
Jahren natürlich für sich beanspruchte, die letzte halbe Stunde vor Ende, eines dieser tollen
Katcars zu fahren. Wir Mädchen, wenn überhaupt eines interessiert war, musste immer den
Jungs den Vortritt geben. Genauso wie dem Spielen in der Bauecke.
Unser letztes gemeinsames Grundschuljahr schließt sich an die bald nahenden
Sommerferien an.
Schwäbische Sorgsamkeit, dazwischen Kinder, die sich begegnen, voneinander wissen,
unbedarft, ohne, dass sie zu diesem Zeitpunkt überhaupt erahnen können, was sie auch
später noch verbinden wird. Leichtigkeit und Frohsinn im Moment. Poesiealben werden
herumgereicht, wir lernen noch ordentlich in Schönschrift zu schreiben.
Thomas, eine schlanke feine Gestalt eines Jungenkörpers, dunkelbraune fast schwarze glatte
Haare, feingeistig, präzise schon damals, stets farblich annehmlich gekleidet, nie zu laut, ein
liebes frohes Lachen im Gesicht, Sensitivität, die ihn umgibt.
Ich entscheide mich für Thomas Geburtstagsfest.
Wir rennen mit dem Gartenschlauch barfuß durch den gepflegten Garten eines ebenso
gepflegten Hauses, wir kreischen, spritzen uns nass und erleben die unverfälschte
Natürlichkeit, das Glück des Moments, Freude pur, mit aller Leichtigkeit, wie es allzu oft im
Laufe des Lebens abhanden kommt.
Später darf ich sogar noch den schicken weißen Golf mit dem Gartenschlauch abwaschen, es
ist in Thomas Zuhause alles sehr ordentlich und so ganz anders als in meinem gewohnten
Zuhause, in der Dreizimmerwohnung in der Sonnenstrasse, die ich seit ein paar Jahren mit
meiner Mutter und meiner Schwester bewohne. Wir sind fußläufig gar nicht so weit
voneinander entfernt, das ist sehr praktisch, da Detektive jederzeit wichtige Aufträge zu
erledigen haben.
Mit Thomas kann ich Legospielen, sogar Fischertechnik, er ist Ästhet, er hat sensible und gut
formulierte gute Einfälle. Und dann gibt es zwischen uns dieses unausgesprochene
Einvernehmen, Dinge zu betrachten, eine Übereinkunft der Wahrnehmung gegenseitig, ja, er
ist mir wirklich ein guter Freund, einer, mit dem ich auf einer Wellenlänge bin. Einer, der
versteht, wir verstehen uns. Auf eine Weise, wie ich später erwachsen formulieren kann, es
ist stillschweigendes Einvernehmen, wir wissen umeinander ohne große Worte darüber zu
machen, was uns miteinander verbindet.
Seine Mutter ist eine schöne Frau, gepflegt mit rotem Nagellack.
Ruhig und freundlich, wenn ich ihn besuche.
Zwischen Gartenschlauch und Lego springt ab und zu sein kleiner Bruder herum.
Wir verbringen unsere Grundschulzeit mit gemeinsamen Verabredungen, ich tröste ihn beim
ersten Liebeskummer.
Wir schaukeln nebeneinander auf dem nahen Spielplatz. Wir verstehen die Welt, die uns zu
Füßen liegt, mit dem Blick aus unseren Herzen und ich weiß, er ist mein Freund, wir geben
uns Versprechen, wir sind füreinander da.
Ich bin im Heute, ein kalter, grauer Tag im April, es ist der 20.4.2024. Ich will schreiben, seit
meinem 8. Lebensjahr bringe ich meine Gedanken und Gefühle zu Papier. Nun ist es der
Laptop, der auf meinen Beinen liegt. Wo sind die 99 Luftballons von einst nur hingeflogen?
Wer oder was hat sie zum Platzen gebracht?
Mein erstes Tagebuch erhielt ich als Geschenk zum 8. Geburtstag, den ich mit Thomas
verbrachte. In unserer Mädchenrunde war er der einzige Junge, den ich zu meinem
Geburtstag einlud.
Diese Tage im Hier und Jetzt sind so grau wie das Wetter, ich bin in einem mir unbekannten
Gefühlszustand. Ich versuche, zu verstehen, die einzelnen Puzzleteile zusammenzufügen, die
sich in meiner Erinnerung auftun.
Es stellen sich viele Fragen, manche bleiben unbeantwortet.
Und täglich ergeben sich auch wieder neue Erkenntnisse, damit mein Kopf begreifen kann,
was eigentlich geschehen ist.
Ich fühle mich dumpf, alles um mich herum ist verblasst. In mir ist es kalt. Und von einem
tosenden Schmerz abgesehen, der mich durchbohrt, scheint alles Leben, alle Freude aus mir
gewichen zu sein. Ich wohne in meinem Körper, der betäubt funktioniert ohne Spürbarkeit,
da der Schmerz alles dominiert.
31.März 2024
Es ist Ostersonntag.
Ich habe die letzten Tage weniger von Thomas gehört. Ich sitze mit Freunden und meinen
Kindern beim Osterfrühstück. Dann erreichen mich Nachrichten von Thomas, ich weiß, es
geht ihm in letzter Zeit zunehmend schlechter. Psychisch wie auch physisch. Seine
Whatsappnachrichten sind fahrig geschrieben, ich habe große Zweifel daran, dass die
Autokorrektur sich verselbständigt.
Seine Nachrichten sind mehr Fragen, was meine Meinung zu so mancher sachlichen
Situation ist, Dinge, die völlig aus dem Kontext eines Osterfrühstücks gerissen sind und ich
schreibe ihm, er soll bitte vorbeikommen.
Das macht er.
Als ich ihn sehe, bin ich in mir sehr getroffen, er sieht viel schlechter aus, als noch vor
geraumer Zeit, beim letzten Wiedersehen. Seine Augen sind müde, seine Worte sind
spärlich, sein Gang ist langsam und alles wirkt so, als würde es ihm unendlich viel Mühe
bereiten. Thomas legt auf den reich gedeckten Ostertisch italienische Amarettini, säuberlich
bunt eingepackt, von seiner letzten Südtirolfahrt. Er ist wie immer farblich sorgfältig
aufeinander abgestimmt ästhetisch gekleidet. Wir sitzen in froher Runde, er ist dabei und ich
spüre dabei dennoch, die Mühe, die er aufbringt, um den Gesprächen zu folgen. Seine
eigenen Lebensfarben wirken an diesem Tag wie fahles verblassendes Licht auf mich.
Mai 2023
Thomas bekommt die Kündigung für seine Mietwohnung in der Hohenzollernstrasse in
München. Eine hübsche sehr gepflegte Altbauwohnung im Herzen Schwabings. Genau
gegenüber von der Schauburg, meterhohe Theaterplakate in bunten Farben rufen
konsequent zum Theaterbesuch auf. 2. Reihe hinter dem Englischen Garten, schicke kleine
Läden, lokale Vertrautheit eingebettet in die Anonymität einer Großstadt.
Um die Ecke befindet sich sein 2. Wohnzimmer, ein italienisches Restaurant, köstliches
Essen, sehr teurer Wein. Eigenbedarfsankündiung seiner angemieteten Jugendstilwohnung.
Und gleichermaßen tut sich über einen Studienfreund eine Veränderung auf, das Haus des
verstorbenen Vaters in Starnberg anzumieten. Thomas beschließt, nach 3 Jahrzehnten in der
bayerischen Hauptstadt, aufs Land zu ziehen, er wünscht sich mehr Ruhe, er möchte einen
Neubeginn starten.
Kurz zuvor zerbricht eine fragliche Beziehung,ein Auf und Ab einer Achterbahn gleich, die ihn
viel Energie kostet.
Weg vom Schwabinger Leben, von einer in Teilen Scheinwelt, in der er zwar viele Leute
kennt, das Miteinander dann gut funktioniert, solange der äußere Status Quo erhalten
bleibt.
März 2019
Thomas ruft mich an, er könne nachts nicht mehr schlafen, er habe Druck auf der Brust.Er
habe Stress, könne nicht mehr runter fahren. Zuviel Druck von allen Seiten.
Er hatte es tatsächlich weit gebracht.
Er verließ die Kleinstadt zum Architekturstudium in München, baute in der Karlstrasse ein
eigenes Büro auf, hatte in der Hochphase seiner beruflichen Laufbahn 16 Mitarbeiter.
Innenausbauten für Este Lauder, MAC, Loreal, Jet Set Leben zwischen teurem Wein, 36
Stunden Wachheit auf so mancher Baustelle, in der Schweiz, in Moskau, in Kopenhagen, in
Paris oder in Düsseldorf repräsentativ seinen Mann stehen, ein typisches Managerleben,
schillernd nach außen, zu wenig Zeit für sich selbst, sicher auch Spaß am Erfolg, das
Seidentuch stets passend im Hemdkragen drapiert.
Nach der ersten Scheidung verliebte er sich in eine russische Arbeitsbekannte, war beruflich
sehr erfolgreich. Fuhr seinen Porsche, war gewohnt business class zu fliegen, Champagner zu
trinken und Austern zu schlürfen.
Wir hielten lose Kontakt, unsere Realitäten unterschieden sich.
Während ich den Klinikalltag kennenlernte, mit Reanimationen und Tod beschäftigt war,
Geburten und Gesundung, wurde er beruflich immer erfolgreicher. Vitrasessel und klar
gezeichnete Architekurlinien.
Es gab Jahre, in denen wir uns nicht mehr begegnet sind, mein Werdegang war nach dem
Abitur ein medizinscher, meine erste Tote wusch ich mit 19Jahren. Unsere äußeren Welten
wichen plötzlich auseinander und die Verpackung meines Kindheitsfreundes war mir fremd
geworden. Ich habe mich oft gefragt, wie es ihm tatsächlich geht, ob er glücklich ist?
Wir begegneten uns wieder, als ich meinen Sohn als Praktikant in seinem Büro abholen
wollte, aus einer halben Stunde wurden plötzlich 5 Stunden und es war wieder wie früher,
im roten Badeanzug mit nackten Füßen im Gras samt Wasserschlauch. Er bestellte Pizza für
uns aan den Designerkonferenztisch, die schlichte Eleganz seiner Büroräume verschmolzen
mit ihm selbst oder andersherum.
Ganz gleich, wieviel Verpackung ein Mensch im Laufe seines Lebens aufgrund von äußeren
Befindlichkeiten anhäuft, wir bleiben doch im Kern alle die, die wir sind.
Ich sehe in ihm immer noch denjenigen, mit dem ich barfuß durch den Garten gerannt bin,
oder denjenigen, auf den ich aufpassen wollte, wenn eine zickige Mitschülerin ihm knapp
das Herz bricht. Alles andere erscheint mir wie Beiwerk, das einfach unwichtig ist. Wir sind
uns gegenüber offen, jeder hat mittlerweile erwachsene Erfahrungen erlebt, Krisen
durchstanden. Und wir reflektieren uns gegenseitig aus einer wesentlich reiferen Haltung
heraus.
Wir hatten uns wiedergefunden, es brauchte nicht weiter viel an Erklärung. Wir sagten
einander, wir sind Bruder und Schwester im Herzen. Und füreinander da. Ich war voller
Freude, ich kann sagen, mein anderer Teil war wieder aufgetaucht, unser stillschweigendes
Einvernehmen, das hat uns miteinander nie verlassen.
Druck auf der Brust, all der Stress, ich riet Thomas dringend an, dass er sich untersuchen
lassen soll, mein Verdacht war, dass er ausgebrannt ist. Kurze Zeit später war er mehrere
Wochen in einer Klinik am Chiemsee, die sich um burn out Patienten kümmert. Ich war
erleichtert. Später erfuhr ich, dass er dabei auch einen Entzug vom Alkohol durchmachte.
Thomas war zwischenzeitlich auf Vater geworden.
Er erzählte mir, dass er seinen eigenen leiblichen Vater nur ein einziges Mal kennengelernt
hatte.
Eine Woche später nach dem ersten Wiedersehen in Norddeutschland war er verstorben.
Wie soll ein Mensch sich seiner bewußt sein, ohne seine Wurzeln zu kennen? Oder
wenigstens darüber in Kenntniss gesetzt zu sein, wo diese liegen könnten?
Das war ein schwerer Schlag für ihn. Seine Mutter hatte ein zweites Mal geheiratet, die
beiden Brüder erfuhren erst nach dem Tod der gemeinsamen Mutter, dass sie biololgisch
betrachtet Halbbrüder sind. Thomas Recht auf Herkunft wurde ihm wissentlich verwehrt.
Ich verstehe heute, dass Kinder doch nicht wissen oder in Worte fassen können, was um sie
herum in der Erwachsenenwelt passiert, dennoch haben sie ein sehr feines Gespür fürs
Gegenüber, ich verstand, was uns schon immer verband. All die Dinge, die wir als
Erwachsene nun überblicken konnten, Krisen aus der eigenen Familiengeschichte, Dinge, die
vulnerabel machen, sensitiver und weichere Gefühle erzeugen.
Gefühle, damit beschäftige ich mich diese Tage nochmal mehr.
Gefühle all derer, die in einer männlichen Leistungsgesellschaft leben, die ihren persönlichen
Status Quo als Ziel erreicht haben, in Teilen wohl auch oft recht einsam sind, und die wenig
Ventile oder vielleicht auch echte Beziehungen haben, um dennoch menschlich verletzlich
sein zu dürfen und menschlich schwach. Und auch, was es Kraft kostet, diesen Status Quo
aufrecht zu erhalten, auch wenn persönliche Lebensumstände mehr nach Ruhe und
Erholung verlangen.
Thomas sah sein Kind leider viel zu wenig.
Beim letzten Versuch, seine Frau und seine noch kleine Tochter gemeinsam nach
Deutschland aus Russland zu holen, damit alle als Familie vorort zusammen leben können,
wurde er von seinem russischen Exschwiegervater krankenhausreif geschlagen.
Heute kann ich sagen, er hat es versucht, er hat alles versucht. Ein guter Vater zu sein, seine
Firma gut am Laufen zu halten, ein guter Partner und vieles mehr.
Er war stets freundlich, hat meist an andere mehr gedacht, als an sich selbst. Er hat sich eine
Familie gewünscht. Ich glaube, wir Menschen streben alle nach Zugehörigkeit, nach
Anerkennung und Liebe. Nach einem sicheren Zuhause. Nach Verstandensein,
Wertschätzung, Respekt und Ehrlichkeit.
1979-1983 Grundschule
In unserer Klasse gab es ein Mädchen, in das Thomas verliebt war. Sie war meine Freundin.
Im Pausenhof streckte sie regelmäßig ihren Arm horizontal zum Boden aus, wenn wir alle
zusammen waren. Das bedeutete, sie forderte von Thomas einen Liebesbeweis.
Thomas sollte dann entweder in die Knie vor ihr gehen, oder wieder aufstehen. Den Arm
senken bedeutete, auf den Boden mit ihm, den Arm heben, er darf sich aufrichten.
Thomas ertrug es geduldig, in mir kochte Wut auf. Ich konnte mir das bald nicht mehr
ansehen. Im Nachgang vielleicht aus meiner heutigen Sicht der Anfang von Manipulation in
Liebesbeziehungen, die ja dann doch keine sind, wenn es nur darum geht, dass einer der
Wunscherfüller des anderen ist. Ich hatte das Gefühl, ich muss ihn vor diesem Mädchen
schützen, oder anders ausgedrückt, ihm klar machen, dass man nichts extra besonders
machen muss, nur um gemocht zu werden. Dass man nichts extra leisten muss, um geliebt
zu werden.
Zwischen Schönschriftschreiben und buntem Treiben auf dem Pausenhof kann ich heute
sagen, es hat sich unbeschwert angefühlt. Ein kleiner Tante Emma Laden hat uns mit Brause
und Esspapier versorgt, an so manchem Kaugummiautomat gab es bunte Überraschungen in
unsere Kinderhände.
Juli 2022
Ich aktiviere einen guten Freund in Südtirol, er hat Freunde mit einem wunderschönen
Bauernhof aus dem 13. Jahrhundert am Hang auf 1500m Höhe über dem Ahrntal.
Malerisches Ambiente, einem Adlerhorst gleich solitär stehend, der Blick frei auf die
umsäumenden 84 Dreitausender, die den Norden Südtirols von Tirol trennen, alte
Holzdielen, eine freie Sicht auf die hohen Berge der Grenzlinie , ein Juwel, unverfälscht, pur
und voller ehrlicher Herzlichkeit. Die unabdingbare Kraft und Klarheit der Natur mit einem
steten Wolkenspiel vor Augen, Sonnenaufgang und -untergang entlang der in Teilen selbst
im Sommer schneebedeckten Bergspitzen.
Thomas hatte sich mittlerweile zwar vom Burn out erholt, jedoch trafen ihn die Auswüchse
der Coronawelle beruflich enorm. Er musste sein Büro auflösen, deutlich verkleinern.
Umziehen, sehen, wie er mit weniger Angestellten dennoch seine Firma am Leben erhalten
kann.
Dann lief parallel ein russisch-deutscher Scheidungskrieg, von dem mir heute noch ganz
schwindlig wird.
Ich besuchte Thomas in Südtirol, er wollte sich dort erholen, es war der Versuch, an sich
selbst wieder anzuknüpfen, wieder am Leben teilzuhaben. Fern von allem, was auch nur im
Ansatz aufgesetzt sein könnte. Wir sammelten Pfifferlinge und luden Freunde zum Risotto
ein. Direkt vom Hof weg wanderten wir auf einem menschleeren Berggipfel, die Freiheit der
Natur um uns herum und sein anfängliches Zweifeln, ob er es bis zum Gipfel überhaupt
schaffen kann, löste sich bald auf. Schritt für Schritt ließen wir die Sorgen des Alltags hinter
uns und dann offenbarte sich die Weite der Welt, die uns wieder zu Füßen lag mit all ihrer
unbeschreibliche Schönheit. Er war glücklich, ich kann sagen frei, er strahlte, seine
Lebensenergie kam wieder zurück.
Oben am Berg bleibt stets festzustellen, der Mensch ist so klein, das eigene innere Gepäck
wird um ein Vielfaches schwindend gering und der Kopf versteht, wenn ich wirklich will,
dann schaffe ich so viel mehr. Es braucht für das pure Glück nicht viel, die selbstgemachte
Brotzeit fern von jeder Zivilisation ist das reinste Geschmacksfeuerwerk und plötzlich spielen
weder Status, Karriere oder das eigene Bankkonto keine Rolle mehr.
Aufatmen, Erleichterung. Oben, angekommen, klare Sicht, auf allen Ebenen.
Es waren schöne Tage. Aufatmen inmitten frischer Bergluft über den typischen blühenden
südtiroler Wiesenhängen.
Er entschied, wieder Fahrrad zu fahren, kaufte sich vorort ein neues, freute sich darüber.
Wir sprachen oft bis spät in die Nacht hinein, manchmal flossen bei ihm die Tränen.
Ich sagte, er ist wertvoll. Und er ist mein Bruder und dafür bin ich ihm dankbar.
Oktober 2023
Thomas hatte den Sommer über nach Übernahme des Hauses unglaublich viel geleistet.
Renovierungsarbeiten im Haus, ich sage Kernsanierung des terrassierten Gartens.
Er beschloss, keinen Alkohol mehr zu trinken.
Er wollte das Schwabinger Leben hinter sich lassen.
Er zog es durch. Es zeugt von einer enormen Willenskraft, Dinge dieser Größenordnung von
einem Tag auf den anderen zu ändern.
Es gab Beschwerden vom Vermieter, von den Nachbarn, ja, manchmal war es laut außen,
dann war irgendwann alles erledigt. Ich bekam die Briefe eines Nachbarn und seines
ehemaligen Studienkollegen in der Rolle als Vermieter zu lesen.
Thomas hatte viel Geld in die Renovierungsarbeiten gesteckt. Menschlich betrachtet konnte
ich über manche Formulierung nur den Kopf schütteln.
Das Haus erstrahlte wieder.
Dezember 2023/Januar 2023
Thomas zog sich mehr und mehr zurück, war müde geworden. Kurz vor Weihnachten wurde
er krank. Die Grippe legte ihn flach. Ich kaufte ihm Essen und stellte mit ihm einen
Ernährungsplan auf.
Wir sprachen über die aktuelle Beziehung, über Befindlichkeiten, Sorgen und Freuden.
Er offenbarte, dass er an einer Depression litt. Das, was ich längst schon vermutet hatte, war
nun endlich ausgesprochen.
Ich sagte, er müsse mir versprechen, dass er dringend einen Arzt konsultiert und einen
Psychologen. Ich machte mir große Sorgen um ihn.
Er offenbarte mir im Januar, dass er seine Antidepressiva abgesetzt hatte.
Im Nachgang denke ich mir, er wollte frei sein. Frei von allem, was ihn fremd bestimmt und
sich selbst wieder in der Rohform fühlen.
Alles war anstrengend geworden.
Er erzählte von seinen schlaflosen Nächten und allem, was ihn beschäftigte.
Er versicherte mir, er kümmere sich um die notwendigen Arzttermine.
Ich ließ nicht locker.
Und ich war in großer Sorge um ihn.
Meine Weihnachtseinladung schlug er aus, er brauche Ruhe und Stille. Zeit für Erholung und
einfach mal gar nichts.
Ich brachte noch rechtzeitig ein Geschenk in Form eines Postpakets für seine Tochter zur
Post, vorfrankiert, wie gewohnt, alles ordenlich und sauber im Vorfeld erledigt.
Silvester verbrachten wir zusammen. Im kleinen Kreis zu Dritt.
Wir standen um eine Feuerschale herum, ließen das Jahr 2023 Revue passieren, ich hatte die
Idee, Wünsche und gute Gedanken für das neue Jahr zu Papier zu bringen. Und auch dabei
bewußt das vergangene Jahr zu verabschieden. Wir sprachen davon, was 2023 an
Herausforderungen für jeden von uns gestellt hatte, was jeder geschafft hatte und
umarmten uns beim Jahreswechsel. Die Stimmung war froh, angenehm, natürlich. Nichts
war aufgesetzt.
Thomas hatte leckeren Südtiroler Speck mitgebracht, Schüttelbrot , einen guten Käse dazu
und schnitt alles in sehr feine mundgerechte Scheiben. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er
nachdenklich auf dem Küchensofa sitzt, während die bunten Kolibiris der Tapete hinter ihm
bunt aufsteigen.
Wir legten unsere Altlasten auf kleine Papierzettel geschrieben in die brennende Glut des
Feuers in der Schale auf meiner Terrasse.
2024.
Am Neujahrstag hatten wir uns nachmittags zum Spazierengehen am Seeufer verabredet.
Ich erinnere mich an einen wunderschönen Sonnenuntergang zwischen den alten
hochgewachsenen Bäumen. Kaum Menschen unterwegs, efeuumrankter alter
Baumbestand, ruhige Schritte und schweigendes Einvernehmen.
Das Wasser des Sees lag ruhig und klar, lediglich die Wolken zeichneten sich in feinen
Silhouetten auf der Wasseroberfläche ab.
Die frische klare Luft eines recht schneearmen Winters tat gut. Wir sprachen zufrieden
miteinander, ich kann sagen, jeder blickte auf seine Weise zuversichtlich ins neue Jahr.
Es fühlte sich authentisch, stimmig und gut für mich an.
Februar 2024
Thomas erzählte mir, dass er nun endlich einen Termin bei einer Psychologin bekommen
habe.
Seine Schlafprobleme hörten nicht mehr auf. Dazu kamen somatische Beschwerden.
Es wurde alles nicht besser, sondern eher schlimmer.
Am 14.2.24 hatte er den ersten Kontakt mit einer Psychologin in München. Er wurde mit 3
verschiedenen Psychopharmaka versorgt. Und einem bekannten starken Benzodiazepin.
Thomas sagte, sie habe ihn ordentlich geschimpft, dass er seine Medikation selbständig
abgesetzt hatte. Der nächste Termin ambulant war bereits vereinbart.
Ich war erleichtert, lobte ihn und war wirklich dankbar und froh darüber, dass es nun endlich
wieder definiert mit ihm aufwärts gehen konnte.
Am 26.2.24 wurde er von einem befreundeten Arzt im München behandelt, sie seien auch
Freunde meinte Thomas, wären bereits gemeinsam auf Teneriffa im Urlaub gewesen.
Eine gut laufende Privatarztpraxis im schönen Münchner Glockenbachviertel.
Gründliche Untersuchung von Kopf bis Fuß, Thomas hatte zu ihm viel Vertrauen und hielt
sowohl fachlich wie auch menschlich viel von ihm.
Anfang Februar hatte ich eine dreitägige Fortbildung in München, Thomas war zu dieser Zeit
geschäftlich parallel in Kopenhagen. Am dritten Tag meiner Fortbildung, rief er mich vom
Flughafen aus an, er habe solch einen Druck auf der Brust, er fühle sich schlecht, was ich ihm
rate. Einige Male verliess ich den Vortragsraum, rief ihn zurück, sprach eindringlich mit ihm,
er solle bitte sofort am Flughafen die Emergency aufsuchen, man müsse einen Herzinfarkt
auf jeden Fall ausschließen.
Er meinte, die Kraft habe er nicht, er wolle lieber zuhause nachsehen lassen.
Er versprach mir, sofort auf deutschem Boden in eine Klinik zu gehen. Ich hatte kein gutes
Gefühl, war in großer Sorge um ihn. Ich konnte ihn nicht davon abbringen, dennoch in den
Flieger zu steigen und er versprach, sich nach der Landung bei mir zu melden, was er auch
tat. Sehen wollte er mich nicht.
Es ist manchmal ein feiner Grad zwischen einem Nein und einem sinnhaften
Darüberhinwegsetzen des Gegenüber.
Thomas verbrachte anschließend 2 Nächte stationär im Krankenhaus.
Besuch wollte er nicht. Wir telefonierten. Überhaupt war es in letzter Zeit häufiger so, dass
wir uns nur dann sehen konnten, wenn es fix ausgemacht war. Ich meldete mich regelmäßig
bei ihm. Das, was wir uns jeher versprochen hatten, das galt. Sein Wort galt, und meines
auch.
Es sollten weitere Untersuchungen anlaufen, Thomas kam nachts im Mehrbettzimmer noch
weniger zur Ruhe und teilte mir mit, dass er sich nun selbst entlasse. Er brauche Ruhe und
Schlaf, er sei so dünnhäutig. Seine Blutwerte seien bis auf ein zu niedriges Natrium alle in
Ordnung.
Wie stark klopft der Schmerz in ein brennendes Herz?
Anfang März
Wir telefonierten, wir sahen uns.
Ich sagte, er brauche dringend Hilfe.
Ich war beruhigter, als er mir davon berichtete, dass die ambulante Therapie bei der
Psychologin nun tatsächlich bereits lief.
Ich sagte ihm, ich sei immer für ihn da, er brauche wirklich dringend fachlich kompetente
Hilfe, das alles erscheine mir wie der Beginn einer Depression, die zunehmend schwerer
wird.
Ich höre mich noch zu ihm sagen, ich sei immer für ihn da. Was er gerade durchlaufe, das
gehe über das Mögliche einer Freundschaft hinaus. Er brauche Therapie, bestenfalls einen
Aufenthalt in einer Psychiatrie.
Ostersonntag, 31.3.2024
Ich bat Thomas doch zu uns nachhause in eine überschaubare Runde mit meinen Kindern
und zwei langjährig guten Freunden zum Osterfrühstück zu kommen.
Bunte Ostereier, saftiger Schinken, frische rote Erbeeren, selbstgebackener Hefezopf,
Kerzenlicht auf dem Küchentisch, sein Appettit hielt sich in Grenzen.
Es war ein sonniger und erstmals warmer Tag, den Nachmittag verbrachten wir sehr
entspannt zusammen im Garten, die nackten Füße spürten erstmals wieder das satte Gras
an den Fußsohlen. Ein leichter Wind wehte und die ersten Blüten der Obstbäume zeigten
sich in voller Pracht.
Thomas erzählte mir, dass er überlege, sich in eine psychiatrische Klinik einzuweisen.
Nur, wie solle es dann weitergehen. Wenn er, wie schon durch den wochenlangen
Aufenthalt in der Burnoutklinik bedingt, so lange von seiner Arbeit fern bleibt, wer erledigt
dann alle seine Aufgaben. Er hatte bereits Kontakt zu einem Kollegen aufgenommen, den er
geschäftlich mit ins Boot holten wollte. Ich spürte Erleichterung. Und ich sagte ihm, daß es
das Allerwichtigste sei, dass er sich erhole, dass es ihm nachhaltig wieder gut gehe.
Es klang alles sehr ausgereift und sinnvoll reflektiert. Und eben auch genauso, dass ich
verstand, dass er selbst längst für sich erkannt hatte, dass er mit einer ambulanten Therapie
nicht wieder gesund wird.
Wir saßen noch länger am Feuer im Garten, Thomas besorgte extra noch Säfte und
Mineralwasser an der Tankstelle, kam bald wieder.
Wir blickten in das lodernde Feuer in all seinen Farben, philosophierten darüber, wie schnell
Materie zu Asche wird. Es gibt Momente, die glücklich sind.
Dies war einer davon.
Mit einer festen Umarmung verabschiedeten wir uns, sahen uns vertraut länger in die
Augen. Ich wußte nicht, dass dies unser letzter Abschied sein würde.
Ich höre mich sagen, Thomas, gib mir bitte in den nächsten drei Tagen Bescheid, wie es
weitergeht. Und wenn Du Hilfe bezüglich der Klinik brauchst, dann bekommst Du von mir
Unterstützung. Wir verabschiedeten uns mit seinem Versprechen, dass er sich darum
kümmert. Das er sich meldet, wenn er mehr weiß. Es gäbe noch einiges vorher zu regeln.
Hoffnung, ja, die gibt es. Momente, in denen alles wieder aufklart, wie nach langen Tagen
mit viel Nebel. Wenn zum ersten Mal wieder die graue Decke unter dem Himmel aufweicht
und einzelne Lichtstrahlen mit voller Kraft zur Erde scheinen, wenn wieder Leben erwacht.
Wenn man weiß, das bedrückende Langwettertief löst sich auf, weil die Sonne mit all ihrer
eigenen Willenskraft allen Trübsinn durchbricht und die Tage wieder heller werden.
Kommentiert [C1]:
In den folgenden Tagen schrieben wir uns, ich hatte beruflich viel um die Ohren und ich
fragte, wie es ihm gehe.
Die Antworten waren recht gleichbleibend, nur ein paar Stunden Schlaf, immerhin,
dazwischen sogar eine Fahrradtour am See bei Sonnenschein. Ich freute mich für ihn.
Er meldete sich bei meinem Sohn, ob er ihm am Haus helfen könne. An dem Tag schüttete es
Sturmfluten vom Himmel und sie vertagten es auf ein regenfreies anderes Mal. Dies fand
nicht mehr statt.
Erste kräftig warme Frühlingstage folgten, die Blumen blühten und das Leben in der Natur
erwachte mit voller Kraft und Leidenschaft.
Wir schrieben uns am 8.4.24 zuletzt, es klang zufrieden, dann folgten 3 Nächte, in denen ich
selbst plötzlich nicht mehr gut schlafen konnte.
Plötzlich.
Ich war unruhig, meine Stimmung war ungewöhnlich undefiniert gereizt über den Tag, ohne
erkennbaren äußeren Umstand, ich verstand mich selbst nicht. Die Sonne schien und ich war
seltsam genervt. Meine Kinder fragten mich, was mit mir los sei. Ich wußte keine Antwort
darauf.
Ich rief Thomas an. Er hob nicht ab.
Unser Osterversprechen war noch nicht eingelöst, ich wollte nachhaken.
Mein Bauchgefühl meldete sich, ich konnte es nicht recht zuordnen.
Ich dachte an Thomas und fühlte mich dabei seltsam beunruhigt.
Ich rief ihn erneut an, erfolglos.
Ich meldete mich frühmorgens am 9.4.24 bei ihm, keine Antwort folgte. Rief ihn an, schrieb
ihm Nachrichten. Bat um Rückruf. Fragte, wie es ihm gehe. Ob alles in Ordnung sei? Ob er
etwas brauche?
Am 11.4.24 um sieben Uhr morgens meldete sich eine seiner Mitarbeiterinnen bei mir, sie
habe von ihm seit dem 8.4. 24 nichts mehr gehört. Ein Teamcall stünde an, Thomas hätte
sich bereits vor 3 Tagen krank gemeldet.
Ob ich nach ihm sehen könne.
Zum Einzug in das Starnberger Haus gab er mir seinen Ersatzhausschlüssel. Ich höre ihn noch
sagen, „dann bin ich beruhigt, falls einmal etwas sein sollte, dann weiß ich, Du schaust nach
mir“.
Ich war in Alarmbereitschaft, mein Bauchgefühl überschlug sich fast. Ich fühlte einen dicken
schweren Klumpen im Magen und ich wußte, es musste etwas Schlimmes passiert sein.
Die untrügliche Gewissheit, das Unfassbare, mein innerlich merkwürdig gereizter Zustand
der letzten Tage, plötzlich hatte ich in mir die Antwort dazu, der ich mit letzter eigener
Vehemenz versuchte gänzlich zu trotzen.
Es gibt vieles, was sich naturwissenschaftlich zwischen Himmel und Erde bewegt, was sich
weit über die Begrifflichkeit der eigenen Ratio hinaus bewegt.
Im Privaten, wenn sich dieses innere Alarmsystem meldet, wenn der Kopf sagt, nein, und der
Bauch dennoch ja, wenn ich weiß, es ist etwas Schlimmes passiert, dann mag ich es nicht.
Will es erst nicht wahrhaben oder will es wegschieben, obwohl ich mit aller Klarheit und
Wucht weiß, ich kann es nicht ändern, der Notfall ist eingetreten.
Im beruflichen Kontext ist es mir stets eine große Hilfe, mit viel Intuition und Feingefühl
genau in verschiedene Lebensmomente hineinzuspüren, um genau zu wissen, was nun
wirklich dringend zu tun ist.
Dieses eigene innere untrügliche Gefühl hat mich noch nie getäuscht. Dabei will ich in
solchen Momenten nur glauben können, die Umstände sind anders. Mag nicht wahrhaben,
was mir die Intuition zuerst meldet, bevor ich danach mit starren Augen in die
unwiderrufliche Realität blicke.
Der Restfunke Hoffnung will die unmißverständliche Vorahnung oder bereits eingetretene
Gewissheit überlisten.
Mein 19jähriger Sohn war noch zuhause, bereits auf schon auf dem Sprung in sein
Fachoberschulpraktikum in einem gut etablierten Tagungshotel am Westufer des Sees.
Ich atmete schwer, hatte das Telephonat mit der Mitarbeiterin beendet, sass wie gelähmt in
meinem Zimmer, durch dessen Fenster wunderbar kraftvoll die Frühlingssonne schien.
Fühlte mich regungslos, bis ich meine eigene innere Stimme endlich in Sprache umwandeln
konnte.
Meinem Sohn sagte ich, es ist etwas Schlimmes passiert, wir müssen zu Thomas fahren. Ich
höre ihn noch mit seiner tiefen jungen männlichen Stimme leicht genervt fragen, „wie jetzt,
warum? Denkst Du das oder sagt Dir das Dein Bauchgefühl?“
Ich erwiderte mit dünner Stimme, „mein Bauchgefühl“.
Heute frage ich mich, warum ich nicht direkt die Polizei verständigt habe? Warum ich auch
noch mein großes Kind mitnahm? Immerhin hätte ich meinem Sohn eine tiefe Kerbe in
seiner Seele erspart.
Nur ein paar Minuten später schloß ich die Haustür zu seinem Haus auf.
Wenn irgendwann mal irgendetwas mit ihm sei, dann könne ich nach ihm sehen, hallte in
mir nach.
Ich rief mehrfach laut nach ihm während ich die Stufen des dreigeschossigen Hauses nach
oben schritt. Es war still im Haus und in mir kam Panik auf, die ich nicht von mir kenne.
Gemischt mit Angst und der rauen Gewissheit dessen, was ich immer noch für unmöglich
hielt. Kam ich zu spät?
Mein Blick fiel auf den Esstisch, dort lagen seine Autoschlüssel, sein Laptop, seine
Sonnenbrille und mehrere Seiten im DINA 4 Format, alle handschriftlich beschrieben, alles
mit System abgelegt. Ich überflog dabei die in Architekturhandschrift ordentlich
geschriebene Zeilen, an seine Tochter, seinen Bruder, an mich.
Ungläubigkeit trotzt dem untrüglichen Wissen der Vorahnung.
Der letzte Funke Hoffnung erstarb, als wir vor der offenen Schlafzimmertür standen, der
Raum war noch abgedunkelt. Von draußen schien die Sonne so freundlich und zart durch all
die vielen Fenster im Haus.
Und ich hörte mich sagen, er ist im Badezimmer. Wir müssen die Türe aufmachen. Ich habe
Angst. Eine Eiseskälte durchfuhr mich bohrend, nagend, unmissverständlich.
Wir fanden ihn im Badezimmer.
Stille, ein lauter Schrei, der aus meiner Kehle drang. Eine blutrot gefärbte Badewanne und
fahle graue Beine, Thomas Beine, darin.
Der Tod, nun, er ist Teil unseres Lebens.
Allzu oft vergessen wir, dass keine Existenz unendlich währt. Nichts ist für die Ewigkeit.
Und es gibt Momente, die verwurzeln sich unauslöschbar in jeder Faser, in jeder Zelle des
eigenen Körpers, sind wie ein Brandmal tief ins Herz hineingebrannt.
Es ist der Schock des Moments, wenn sich der Tod ohne Gnade präsentiert.
Wenn er still ist und alleine.
Während die Sonne fast kindlich durch die Fenster scheint.
Wenn einem dabei die Kehle brennt und ein messerscharfer Schmerz die eigene Brust
durchbohrt.
Unabänderlich. Wenn das eigene Nervensystem Salti schlägt und eine Eiseskälte den ganzen
Körper nackt einfriert.
Verinnerlichter berufsbedingter Notfallautomatismus. Und Kälte.
Ich tippte mit zitternden Händen die Notrufnummer in mein Handy, in kürzester Zeit war das
Haus voll mit Rettungssanitätern, der Feuerwehr, einem sehr netten Notarzt, der
Krisenintervention, Polizeibeamten, später sogar einer Ärztin von der Mordkommission.
Eingefrorene Worte auf die typischen Fragen, der Schock, der wie ein Tsunami mit voller
Wucht jede Realität des eigenen Verstandes überrollt, arktische Eiszeit, als wäre selbst aus
mir jedes Leben gewichen.
Thomas.
In eine Decke gewickelt saß ich irgendwann in der Sonne vor dem Haus, ein Polizist brachte
mir heißen Kaffee.
Meine Hände zitterten immer noch. Die Schuldfrage kam prompt in mir auf.
Bin ich schuld, dass Thomas sich entschied, selbstgewählt aus dem seinem Leben zu treten?
Hätte ich es verhindern können? Gibt es auch nur im Ansatz überhaupt eine Schuld?
Oder ist es schlichtweg so, dass, so wie er in seinem Abschiedsbrief schrieb, er sich verloren
hatte. Sich selbst verloren.
Wo fängt man an, sie sich selbst wiederzufinden.
Und wer kann einem dabei wirklich helfen?
Er hatte mir gegenüber nie auch nur im Ansatz von Selbstmord gesprochen.
Alles, was in diesem Tag noch folgte, erscheint mir nun, genau 10 Tage später weit weg.
Ich bin um all die wirklich professionelle Hilfe vorort enorm dankbar.
Jedem einzelnen, der uns in diesem Moment versorgt hat, mit uns sprach, da war.
Suizid, Selbst-Mord, Freitod.
Ich versuche im Netz Antworten auf meine Fragen zu bekommen.
Es gibt nicht viel Infomationen dazu. Ich werde mit einem gesellschaftlichen Tabu
konfrontiert. Einzig ein wissenschaftliches Paper über Suizid von der Berliner Charite gibt mir
tiefere Einblicke dazu.
Selbstmord ist Mord an sich selbst. Mord ist gewaltsam. In der darauffolgenden Zeit
beschäftige ich mich intensiv mit allen Modalitäten dazu.
Der Freitod ist selbst gewählt, ja, das stimmt. Allerdings wirkt dieses Wort wie ein
Weichspüler mit Verschönerungscharakter.
Wie lässt sich weiterleben, wenn ein Mensch plötzlich fehlt? Wenn er selbstgewählt
gewaltsam aus dem Leben getreten ist.
Ich glaube, wir alle treffen im Laufe des Lebens immer wieder Entscheidungen.
Mal mehr, mal weniger nachhaltig.
Richtungsweisende Entscheidungen, in jungen Jahren wegweisender als in Teilen später im
Leben.
Ich glaube, jedes Leben ist lebenswert,da das Leben selbst, in seiner reinen Form wertvoll ist.
Wie tief sinkt die eigene Hoffnung in die eigenen Abgründe hinab, löst sich gänzlich auf? Kein
Horizont mehr in Sicht in der eigenen Lebenslandschaft? Wo zerfliessen die Grenzen der
eigenen Autonomie mit dringender Hilfsnotwendigkeit von außen?
Wie steht es um Cotraumatisierung als Hinterbliebender? Als Angehöriger?
Darf man sich tatsächlich selbst das Leben nehmen? Wie geht unsere Gesellschaft damit
um? Ich stelle fest, über Selbstmord als solches zu sprechen, ist immer noch tabuisiert. Als
Mann depressiv zu sein in Teilen genauso. Es erschwert den Umgang damit immer noch. Und
die mögliche Wechselwirkung ebenfalls.
Das Leben ausgelöscht, weg. Mit Gewalt und stiller unausgesprochener Planung.
Stirbt ein nahestehender Mensch durch einen fremd herbeigeführten Unfall oder durch die
Auswüchse eigener schwerer Krankheit, gibt dies den Hinterbliebenen die Gelegenheit
gesünder zu trauern. Es bleibt wenigstens die gesunde Wut zur Verarbeitung. Die Wut erhält
die eigene Lebenskraft. Kann den Schock leichter im Zaum halten.
In der Durchsicht einiger Unterlagen hat sich mittlerweile herausgestellt, Thomas hat sich
Hilfe gesucht. Professionelle Hilfe. Er hat es zumindest versucht.
Das versöhnt mich mit ihm und ich brauche nicht länger zweifeln, dass er seine Versprechen
mir gegenüber nicht einhielt. Ganz im Gegenteil.
Es tauchen neue Fragen auf, Unverständnis kommt dazu, gemischt mit Fassungslosikeit, die
sich meiner Vorstellungskraft entzieht.
Ich finde auf seinem Schreibtisch eine Rechnung zur psychiatrischen ausführlichen Befragung
durch einen Professor einer bekannten Münchner Uniklinik. Datiert auf den 19.3.24.
Es stellt sich heraus, dass sein befreundeter Arzt bereits am 26.2.24 in seinen Diagnosetext
schrieb „akute Suizidalität“. Der Psychologin, die Thomas erstmalig am 14.2.24 aufsuchte,
teilte Thomas Bruder erst vor ein paar Tagen mit, dass sich dieser selbst vom Leben
verabschiedet hat. In Ihrer Emailantwort an ihn äußert sie sich dahingehend, dass sie mit so
etwas nicht gerechnet hätte. Falls einer der Hinterbliebenen jedoch ihre therapeutische Hilfe
benötige, können wir uns jederzeit gerne an sie wenden.
Ich habe Thomas befreundeten Arzt eine Email zukommen lassen.
Ich schreibe wie folgt:
„Sehr geehrter Herr Dr. H. ,
aufgrund der jüngsten Ereignisse um meinen langjährigen besten Freund Thomas L. schreibe
ich Sie an. Mein Sohn, 19 Jahre, und ich fanden Thomas am 11.4.24 nach Siuzid tot in seiner
Badewann auf. Wie ich mich erinnere, Thomas hielt sehr viel von Ihnen, fachlich und
menschlich. Er suchte Sie am 26.2.24 in Ihrer Praxis zur Behandlung auf. Es gibt einige
Fragen, die sich mir persönlich stellen. Unverständnis. Fragen, die mehr damit zu tun haben,
wo es um gefühlt schwarze Löcher geht, Dinge, die mir keine sachlich nachvollziehbare
Antwort zu seinem gewaltvoll herbeigeführten Suizid liefern.
Nach Thomas Aussagen war Ihr beider Verhältnis nicht nur ärtzlicher Natur wie sonst gängig
zwischen und Arzt und Patient. Gemeinsamer Urlaub usw., das lässt manche objektive
Beurteilung möglicherweise aufweichen.
Anfang des Jahres ging es Thomas zunehmend schlechter. Sowohl psychisch als auch
physisch. Da es nun im Nachgang in Thomas Sinne einiges zu erledigen gibt, fiel mir die
zuletzt an ihn gestellte Privatarztrechnung von Ihnen in die Hände, datiert auf den 26.2.24.
Sie schreiben in den Diagnosebereich „aktute Suizidalität“. Wie darf ich das verstehen?
Da Thomas Verfassung zunehmend schlechter wurde, riet ich ihm dringend, sich ärtzliche
Hilfe zu holen. Einen Psychologen/Psychiater zu konsultieren, ebenso Sie. Es gibt
Befindlichkeiten, die über das mögliche Mass einer gut funktionierenden Freundschaft
hinausgehen. Und wo ganz klar ist, dass fachlich korrekte therapeutische Hilfe akut dringend
indiziert ist. Damit es dem Menschen, dem Freund besser geht.
Damit er genau die Unterstützung von den Fachstellen, bekommt, die sein Leben wieder
wervoller und positiver macht. Es gibt ganz klar rechtliche Handlungsnotwendigkeiten
gegenüber eines Patienten, der erkennbar diagnostizeirt entweder die Anzeichen einer
Selbst,- oder Fremdgefährdung bietet.
Und genau hier setze ich an.
Wie objektiv fachlich konnte Ihre Behandlung von Thomas überhaupt erfolgen?
Haben Sie aufgrund der bestehenden akuten Suizidalilät die Polizei informiert? Eine
Psychiatrie?
Wurde Thomas in Kenntniss gesetzt und ihm die Entscheidung mit diesem aktuen
schwerwiegenden psychischen Krisenmoment abgenommen, damit er akut in eine
Psychiatrie verlegt wird? Da er selbst keiner klaren Entscheidung mehr fähig war?
Ich bin davon ausgegangen, dass Thomas adäquat versorgt und behandelt wird.
Er gab mir sein Versprechen, dass er Sie aufsucht. Thomas hielt seine Versprechen.
Ich konnte mich immer auf ihn verlassen und er sich auf mich.
„Bestürtzt zu sein“, das ist Ihre Formulierung an seinen Bruder, das ist ein verbaler
Weichspüler im Vergleich zu dem , was aus meiner Sicht gravierend mit all seine Schwere
schief lief. Es gibt unter Umständen ein kollektives Versagen, sonst wäre er noch am Leben.
Er hat sich Hilfe gesucht.“
Ich erhielt bislang keine Antwort.
Meine persönliche Schuldfrage hebt sich auf. Sie weicht einer großen Traurigkeit.
Ich habe immer noch in Teilen Konzentrationsprobleme.
Mein Sohn auch.
In den kommenden Tagen hat jeder von uns jeweils eine eigene Sitzung Traumatherapie.
Ich sehe ein, dass es tasächlich möglich ist, dass ein Mensch durch vier unterschiedliche
ärztliche und therapeutische Institutionen durchrutschen kann.
Eine weitere Rechnung der Uniklinik Großhadern taucht auf.
Thomas wurde vom psychiatrischen Chefarzt untersucht.
Interessanterweise war es möglich in zeitnahen Abständen in unterschiedlichen
Konzentrationen Sedativa per Rezept von mehreren Stellen zu beziehen.
Ich frage mich, wie es möglich ist, einem akut suizidalen Menschen Unmengen von
Psychopharmka zu verschreiben?
Neben der Badewanne lagen die leeren Tablettendöschen wie auch eine leere
Schmerzmittelpackung.
Meine eigene Fassungslosigkeit darüber wiegt fast genauso schwer, wie der plötzliche
Verlust meines Freundes.
Ich sehe teure privatärztliche Rechnungen, die mir wie eine Farce ins Gesicht schlagen.
Und es tauchen weitere Fragen auf, weil ich nicht verstehe, wie es möglich ist, dass ein akut
selbstmordgefährderter Mensch so sehr übersehen werden kann und wird.
Wie es dabei möglich ist, mit einem satten Vorrat an starken Betäubungsmitteln nachhause
gelassen zu werden.
Und wo klar ist, dass es für jeden von uns auch eine Fremdverantwortung gibt. Genau dann,
wenn der einzelne nicht mehr in der Lage ist, klar eigenverantwortlich zu agieren.
Thomas Abschiedsbrief ist auf den 23.3. 24 datiert.
Einige Worte sind etwas verwaschen in der Sprache.
Er hinterlässt mir die Zeilen, „Liebe Astrid, bitte verzeih, dass ich unsere langjährige
Freundschaft nicht länger am Leben erhalten habe können“.
Er hat selbst im Vorhaben seines Todes für alle, die noch am Leben sind gründlich gesorgt.
Sein befreundeter Arzt drückt sich in seiner Antwortnachricht an seinen Bruder mitunter so
aus, dass er bestürzt sei.
Ich bin nicht bestürzt.
Ich bin schockiert. Über das kollektive Versagen eines Systems.
Ich bin schockiert darüber, dass ein kranker Mensch sich mit letzter Lebenskraft tatsächlich
Hilfe holen will. Und dann doch nur mit Tabletten abgespeist wird.
Depressionen, sie sind immer noch ein Tabuthema in unserer Leistungsgesellschaft.
Darüber offen reden können ebenso.
Ich glaube, je sensitiver ein Mensch ist, umso wichtiger ist es, extra genau hinzuhören.
Ich bin der Meinung, wir sollten alle viel wertfreier miteinander umgehen. Erstmal zuhören,
hinhören und auch hinspüren, was sich wirklich hinter der äußeren Fassade verbirgt.
Wo wirklich seelische Not ist und wo wirklich dringend geholfen werden muss.
Der einzelne kann und darf nicht unwichtig sein, denn jeder einzelne ist in Summe unsere
Gesellschaft.
Es ist manchmal ein schmaler Grat zwischen Selbstautonomie und Hilfsnotwendigkeit ohne
Aufforderungscharakter.
Männliche Sensitivität, wohin damit? Wie kann ein Mann in einer immer noch von männlich
überholten Verhaltensmustern geprägten Leistungsgesellschaft tatsächlich gesund
bestehen? Ist Versagen männlich akzepiert? Und wohin mit all den persönlichen
Tiefschlägen, die das Leben selbst zeichnet? Die niemand extra einbestellt?
Wie begegnen wir Schicksal und allem, was unser Bild von uns selbst ins Wanken bringt? Den
eigenen möglichen Kindheitswunden? Dürfen Männer endlich weinen ohne verurteilt zu
werden?
Was geschehen ist, lässt sich nicht mehr verändern.
Mich hat es verändert. Nichts ist mehr wie vorher.
Mai 2024
Mitte Mai findet im Dietramszeller Friedwald seine Beisetzung statt. Ein wolkenbedeckter
Tag über einem dunkelgekleideten Zug von Menschen, aufgereiht, nicht abgesprochen,
schweigend, betroffen, und doch gemeinsam.
Ich halte eine Abschiedsrede, vor mir steht die Urne mit Thomas Asche, ein großes
Portraitfoto von ihm blickt uns alle freundlich hinter dem dunklen Rahmen an. Viele sind
gekommen, Freunde, Geschäftspartner. Junge und ältere Menschen, Teile der
niederbayerischen Verwandschaft. Irgendwann zieht ein kurzes Gewitter über dem kleinen
Waldsee hinter meinem Rücken auf.
Umarmt Euch, sagt Euren Kindern, dass Ihr sie liebt. Vergebt Euch selbst, feiert das Leben,
helft einander.
Im Blick Thomas in Cowboystiefeln auf einer pinkfarbenen Vespa, er lächelt uns aus der
Ferne zu.
An einer jungen Birke wird seine Asche in die Erde eingebettet.
Kinder legen bemalte Steine dazu, wir legen Rosen nieder. Thomas Bruder schaufelt zuvor
das Erdloch in den Waldboden, trägt seine Asche dorthin, wo es nun endlich friedlich und
ruhig ist.
Vier Wochen sind nunmehr vergangen. Thomas Bruder und ich sind uns sehr verbunden, wir
trauern gemeinsam, bestärken uns und schaffen wirklich viel zusammen, von Null auf
Hundert, so, wie wir glauben, dass es Thomas Willen entspricht.
August 2024
Der Ventilator läuft, ich liege auf einem cremefarbenen Handtuch auf dem ebenso hellen
Sofa.
Die schwarze Katze Bella im Kontrast dazu. Außentemperatur 34 Grad. Blauer Himmel,
mallorquinische Augusthitze. Alles hier ist sehr hübsch, farblich aufeinander abgestimmt. Auf
dem Glastisch liegen mediterrane Architekturzeitschriften. Eine Vogue von 2018 irgendwo
dazwischen. Ich füttere die Katzen morgens und abends, eine halbe Dose Feuchtfutter im
Miniformat. Bella hat sich angewöhnt, mich kurz nach Sonnenaufgang auf dem Dach zu
besuchen.
Ich geniesse den Wind, der vom nahen Meer kommt und mich nachts seicht in den Schlaf
streichelt.
Vom Flachdach des schlichten weißen Hauses sehe ich das Meer. Ich empfinde große
Dankbarkeit, dass ich das Haus während der Abwesenheit ihrer Besitzer hüten darf.
Erstes Wiedersehen seit 5 Jahren, alte Freundschaft. Es ist wie Nachhausekommen, dort wo
die Erde rot in der Abendsonne glüht.
Die Spiegelung des aufgegangenen Mondes auf silbrigen feinen Linien umrandet von
pechschwarzer Nacht. Die angenehme salzige Wärme in der Luft. Außenhitze tagsüber
erfordert eine automatisch langsamere Gangart, bringt Entschleunigung.
Nun bin ich hier, atme erstmals wieder Leben. Die letzten Monate habe ich mich sozial nur
auf die nötigsten Kontakte reduziert, mehr wäre unerträglich gewesen. Meine Seele war zu
sehr verwundet.
Ich denke an Thomas, habe endlich Ruhe und Zeit, um wieder zu spüren. Mich zu spüren,
denn ich will leben, will atmen, will mich freuen, will dankbar sein, für jeden einzelnen Tag.
Der verchromte Ventilator läuft unermüdlich, die Wanduhr in der hell gestrichenen Küche
dreht die Zeit weiter.
Die will ich vergessen, will einfach nur wieder an mich anknüpfen.
Heute Nacht träumte ich von Schnee. Ich kann riechen, wenn er sich ankündigt. Und was es
für ein bedeutsamer Moment ist, die ersten eigenen Schritte in eine jungfräuliche
Schneelandschaft zu setzen.
Ich habe die Klarheit des Meeres direkt hier vor der Haustür wiederentdeckt. Türkise
Flächen, die sich mit verschiedenen Blautönen abwechseln, je nach Tageszeit mit dem
Horzizont eins werden, bis die Mittagshitze darüber brennt.
Ich weiß mittlerweile, der Tod von Thomas diesen April hat mich nicht verhindert.
Hat meine Lebendigkeit zwar für einige Zeit eingefroren, doch ich taue sie unter spanischer
Sonne wieder auf.
Ich sah den Tod nicht kommen. Er präsentierte sich mir nur so schonungslos wie möglich.
Das Leben selbst hat ihn ausgespuckt. Wie ein stiller Vulkan, ohne Zögern wütend
versengende Lava auswirft.
Mark Rothkos Adaptation hier an der Wand ist rot.
Das Bild trägt den Namen „The feast of the lamb“. Der in Leinen gebundene asiatische
Reiseführer auf dem niedrigen Glastisch ist ebenfalls rot. Wie erging es dem Lamm dabei?
Rot ist eine starke Farbe, voller Wut und Leben.
Die blutverschmierte Badewanne hingegen hat das Leben genommen, oder, das Leben selbst
hat sich in ihr entleert, hat das Badewasser rot eingefärbt.
Hat ein kräftiges Bild erzeugt.
Ich habe den Tod also nicht verhindert. Mein Bruder hat ihn selbst einbestellt, hat ihn
geplant.
Ich kann fremde Gäste nicht ausladen, die ich nicht selbst bestellt habe.
Und nachdem mein erster Schrei im Rot der Badewanne verhallt war, kam das Salz aus
meinen Augen.
Später schrie ich im Wald ein weiteres Mal auf. Und sagte mir inmitten der grünen satten
Kulisse hörbar zu mir selbst, ich entscheide mich für das Leben, für mein Leben. Ich will
lebendig sein, ich will wieder fühlen, schmecken, riechen, hören,sehen und spüren.
Dennoch, wie versengende Hitze ein behütetes Feld niederbrennt, genauso schonungslos
hat die Glut des Blutes meine Seele niedergesengt.
Das Rot dringt hier mittlerweile in den bläulichen Abendhimmel über die abgesetzten
Ausläufern der Tramuntana ein, die die Insel in Teilen schroff, teils weich durchziehen.
Es sind die Nuancen des Lichts, die jede Faser meines Körpers wieder neu mit Leben
auffüllen.
Zeit, die habe ich vergessen. Ereignisse verblassen, Thomas fehlt.
Eine Antwort auf meinen Brief an seinen Arzt bekam ich nie.
Der verchromte Ventilator bläst nunmehr warme Abendluft herein.
Die Hitze ist milder geworden, genauso wie mein Schmerz.
Mai 2025
Ein Jahr ist wie ein Lebenszyklus. Ein Trauerjahr, Feste, Geburtstage, Silvester, ein Ostern
ohne Thomas.
Die Natur ist wieder satt und grün.
Die Sonne scheint. Und ich bin wieder da. Ich habe mich verändert. Ich lebe und liebe.
Thomas ist täglich ein Teil davon. Ich lebe für ihn weiter. Noch bewusster. Mein Sohn
schreibt bald sein Abitur. Ich kann wieder wie gewohnt arbeiten. Meine posttraumatische
Belastungsreaktion hat sich aufgelöst.
Sein ehemaliger Studienfreund und Vermieter rief mich erst neulich an, er benötige Hilfe, ob
mein Sohn nicht für die neuen Mieter aus Berlin noch restliche Möbel aus dem Haus tragen
könne.
Ich sage nein, er hat keine Zeit. Ich empfinde diese Frage als unglaublich unsensibel. Nein,
mein Sohn braucht nicht mehr dorthin, wo die Badewanne vor einem Jahr noch blutig war.
Ich bin froh, dass er sich auch wieder konzentrieren kann.
Sein Studienfreund war der einzige, der bei Thomas Beisetzung die Rose eher unachtsam
aufs Grab warf. Vielleicht ein Zufall. Vielleicht einfach nur unempathische Unbeholfenheit.
Mir sind im vergangenen Jahr viele Menschen begegnet, die mit Suizid im eigenen
Freundeskreis oder in der eigenen Familie zu tun hatten. Das Tabu ist also kein Tabu.
Depression ist ebensfalls keine unausgesprochene Verbotszone.
Fragen werden dennoch unbeantwortet bleiben.
Ich vermisse Thomas .Ich habe mich oft im letzten Jahr gefragt, was wäre seine Haltung zu so
manchem.
Ich bin dankbar um die Zeit, die wir gemeinsam haben durften.
Kommentiert [C2]: Nd
Ich wünsche mir dabei einen offeneren Umgang mit psychischer Erkrankung, mehr
Hellhörigkeit und daran geknüpft echte professionelle Hilfe für die Betroffenen.
Auch und vor allem für die, die noch am Leben sind, die weiterleben, die damit klar kommen
müssen, was bleibt, nach dem Suizid.
Ich kann inzwischen akzeptieren, wie seine Entscheidung ausfiel.
Mein Trauma damit ist Teil meines Lebens, ich habe es erlebt, aber ich bin nicht mehr dieses
Trauma.
Es hat mich viel Kraft gekostet.
Was würde Thomas sagen?
Was hätte ihn aufgehalten?
Er hatte die Überholspur längst hinter sich gelassen. Und ist dabei dennoch aus der Kurve
geflogen. Hat sich letzte Flügel verliehen.
Meine eigenen Luftballons fliegen wieder bunt am Horizont.
Und voller Hoffnung.
Nur einer fehlt.
Astrid Sommer
Starnberg, 19.5.2025

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